Digitalisierungsprojekte stehen in vielen Unternehmen im Fokus und versprechen Effizienz, Transparenz und die Vereinfachung komplexer Prozesse. Doch die Realität zeigt, dass zahlreiche dieser Projekte scheitern oder nur schleppend vorankommen. Ein häufig unterschätzter Grund dafür ist das sogenannte Herrschaftswissen – spezifisches Wissen, das Einzelpersonen bewusst oder unbewusst nutzen, um ihre Position und Bedeutung im Unternehmen zu sichern. Dieses Verhalten ist keineswegs neu; Juristen kennen es schon seit der ersten Hausarbeit im Studium. Damals gab es immer wieder Kommilitonen, die das entscheidende Buch mit der vermeintlichen Lösung in der Seminarbibliothek absichtlich an einem anderen Ort versteckten, um sich einen Vorteil zu verschaffen. Genauso behindern heute im Unternehmen jene, die ihre Wissensmonopole schützen wollen, die Umsetzung transparenter, digitalisierter Prozesse.

Was ist Herrschaftswissen?

Herrschaftswissen ist Wissen, das sich einzelne Personen im Unternehmen angeeignet haben und das nur ihnen zugänglich ist. Dieses Wissen umfasst Details über Abläufe, Arbeitsaufwände und systemische Besonderheiten, die für den täglichen Betrieb notwendig sind. Durch den Besitz dieses Wissens erscheinen bestimmte Mitarbeiter als unverzichtbar, da sie Aufgaben schneller, effizienter oder einfach besser erledigen können als andere. Für das Unternehmen bringt dies Abhängigkeiten mit sich: Fehlt diese Person, entstehen Verzögerungen und Unsicherheiten, da das Wissen unzugänglich bleibt.

Herrschaftswissen und die Angst vor Transparenz

In einem digitalisierten, transparenten Prozess wird Herrschaftswissen sichtbar und für andere nachvollziehbar. Das bedeutet, dass die genauen Abläufe dokumentiert und automatisiert werden können, was den Arbeitsaufwand verringert und gleichzeitig die Abläufe objektiv messbar macht. Für Mitarbeiter, deren Position und Status auf diesem exklusiven Wissen basieren, stellt dies eine Bedrohung dar.

Die Angst vor Entbehrlichkeit kann also dazu führen, dass wichtige Informationen absichtlich zurückgehalten oder verschleiert werden. Dies geschieht oft subtil – durch das Weglassen bestimmter Details, das Verkomplizieren von Prozessen oder das Betonen der „Unersetzlichkeit“ eigener Tätigkeiten. Der Übergang zu einem transparenten, digitalisierten Prozess wird somit blockiert oder absichtlich verlangsamt, um die eigene Position zu schützen.

Wie Herrschaftswissen Digitalisierungsprojekte blockiert

Ein wesentliches Ziel von Digitalisierungsprojekten ist es, Prozesse effizienter und nachvollziehbarer zu gestalten. Dabei wird oft nicht bedacht, dass das Aufbrechen von Wissensmonopolen auf Widerstand stoßen kann. Mitarbeiter könnten befürchten, dass ihre Erfahrung und ihr Wissen in digitalisierten Abläufen an Bedeutung verlieren. Dies kann zu einer Vielzahl von Blockaden führen, zum Beispiel:

  1. Zögerliche Zusammenarbeit: Mitarbeiter, die fürchten, durch die Digitalisierung überflüssig zu werden, könnten die Zusammenarbeit mit dem Projektteam bewusst behindern. Informationen werden nur zögerlich geteilt oder wichtige Details bleiben verborgen.
  2. Verzögerte Entscheidungsprozesse: In einer Organisation, in der bestimmte Personen entscheidende Informationen exklusiv besitzen, werden Entscheidungen oft bewusst verzögert, um die Bedeutung ihrer Position zu untermauern. Digitale Prozesse sollen jedoch schnelle und transparente Entscheidungen fördern – ein Widerspruch, der zu Konflikten führen kann.
  3. Verkomplizierung von Abläufen: Herrschaftswissen führt dazu, dass Arbeitsaufwände und Prozessschritte oft komplexer erscheinen, als sie tatsächlich sind. Intransparent gehaltene Strukturen, die ohne Rückfrage nicht nachvollziehbar sind, lassen sich jedoch nur schwer digitalisieren und optimieren.

Wie Unternehmen diesen Effekt überwinden können

Die Aufgabe von Herrschaftswissen und die Etablierung transparenter digitaler Prozesse erfordert ein kulturelles Umdenken. Hier einige Maßnahmen, wie Unternehmen diesen Wandel unterstützen können:

  1. Förderung einer offenen Wissenskultur: Schaffung einer Atmosphäre, in der Wissen teilen als Vorteil und nicht als Bedrohung wahrgenommen wird. Schulungen und Workshops zur Förderung von Transparenz und Teamwork können helfen, Ängste abzubauen.
  2. Kommunikation der Vorteile der Digitalisierung: Die Digitalisierung bringt nicht nur Effizienzsteigerung, sondern auch Erleichterungen für die Mitarbeiter, da repetitive und aufwändige Aufgaben automatisiert werden. Durch gezielte Kommunikation kann verdeutlicht werden, dass der Wissens- und Kompetenztransfer eine positive Entwicklung für alle Beteiligten ist.
  3. Schrittweise Digitalisierung: Ein sanfter Übergang in die Digitalisierung kann den Verlust von Herrschaftswissen schrittweise auffangen. Pilotprojekte und kleinere digitale Prozesse schaffen Vertrauen und zeigen auf, dass der persönliche Wert eines Mitarbeiters nicht allein an exklusivem Wissen gemessen wird.
  4. Einbindung der Mitarbeiter in den Digitalisierungsprozess: Wenn Mitarbeiter frühzeitig in den Digitalisierungsprozess einbezogen werden, fühlen sie sich wertgeschätzt und erkennen eher, dass ihre Erfahrungen für den Erfolg des Projekts von Bedeutung sind.

Fazit

Herrschaftswissen ist oft ein unterschätzter Faktor, wenn es um das Scheitern von Digitalisierungsprojekten geht. Solange Wissen als Machtinstrument eingesetzt wird, bleibt der Weg zur Digitalisierung steinig. Nur durch eine bewusste, offene und transparente Unternehmenskultur können Digitalisierungsprojekte erfolgreich und nachhaltig umgesetzt werden. Die Digitalisierung sollte dabei als Chance für alle Beteiligten verstanden werden – eine Gelegenheit, die Zusammenarbeit zu verbessern und eine neue, moderne Arbeitsweise zu etablieren.

Warum Digitalisierungsprojekte scheitern: Der Verlust von Herrschaftswissen und seine Folgen